Vielen Dank für dieses Video! Was ich auch sehr wichtig finde, ist, auf besonders nützliche Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang zurückzugreifen. Im vorliegenden Beispiel wäre das aus meiner Sicht noch der Begriff der "Umgebung", der von den Formalien abstrahiert. Auch bei einer naiven Verwendung dieses Begriffs wird dann schnell klar, was der Punkt ist: Die Stetigkeit beschränkt die "Variabilität" der Funkton f "um c herum" (= Umgebung) -- die Funktionswerte um c fallen "nicht schnell genug" ab, als dass ein Integral mit dem Wert 0 herauskommen könnte. Auch wenn ich nur einen sehr kleinen Variabilitsbereich um den Funktionswert f(c) herum wählen würde, etwa die Umgebung V(f(c)) := [f(c)-epsilon, f(c)+epsilon], würde ich per Definition der Stetigkeit dennoch eine Umgebung U(c):= [c-delta, c+delta] finden können, in der der Funktionswert nicht unter f(c) - epsilon sinken kann. Für epsilon := f(c) / 2 etwa wie in Ihrer Rechnung bleibt die Funktion dann auf U(c) strrikt positiv und liefert auf dieser niechtleeren Menge und nicht-Nullmenge auch ein positives Integral. Wäre f in c sogar differenzierbar, würde die "Variabilität" von f um den Punkt c herum sogar noch stärker beschränkt. Umgangssprachlich würde man Umgebungen U(c) von c finden können, in denen die Funktionswerte von f nicht nur nicht "beliebig ausreißen können", sondern sich die Funktion f "fast wie eine Gerade verhält" -- mit "leichten" Abweichungen. Das ist ja das, worauf man letztendlich, gerade in Anwendungen, mit Begriffen wie "Stetigkeit", "Differenzierbarkeit" oder "bandbeschränkt" (im Sinne von Fourier) abzielt: Man will ein wie auch immer "kontrolliertes" Verhalten der Funktion f, das z.B. Vorhersagen erlaubt.
So wünscht sich Mathematik jeder. Die angesprochene Lebendigkeit, konkret, die Voraussetzungen an Fallbeispielen nachvollziehbar zu entwickeln und somit am Ende in den Formularien hinschreiben zu können, wird in der Regel einfach so herunter gespult. Vlt. sollte man schon im Abitur dazu vielmehr machen. Denn man kann ja sehen, dass es durchaus nachvollziehbar dargebracht werden kann. In der Regel wird dies, wie schon von Vorrednern angesprochen, durch die schiere Fülle des Stoffs an der Uni wohl allein schon zunichte gemacht, es so in der Vorlesung zu präsentieren. Aber ich denke auch, dass dies tatsächlich so gewollt ist, also Definitionen oder allgemein "Stoff" abstrakt hinzukritzeln und dann versucht man Ideen zu entwickeln, um es zu beweisen. Aber ich denke, es täte der Vermittlung der Mathematik auch gut und somit der Mathematik allgemein es so zu versuchen, wie hier am Beispiel gemacht. Man muss dann eben abwägen, ob man hier vlt. nicht etwas einschränkt und abwägt, Dinge aufzuspalten im Stoff. Denn was hat man davon, zu sagen, naja es ist halt "alles" im Curriculum drin und somit "juristisch" oder eben der Lehre entsprechend vorhanden, aber es sind halt die Ideen zu kurz gekommen. Dabei sind die Kreativität und somit auch die Ideen in der Mathematik die eigentliche Essenz, natürlich neben der strengen Formalität. Man braucht beides. Eine schöne Idee wäre noch, gerade weil man hier die weierstraßschen Argumente benutzt, zu zeigen, was im Gegensatz zu der Newtonschen oder Leibnitzschen Herangehensweise am Beispiel der Differenzierung einer Funktion an Sicherheit gewonnen wird, wenn man die Epsilontik benutzt. Denn auch, und das ist das andere Beispiel, wie Mathematik präsentiert wird, wird gerne auch in Büchern eine recht unpräzise Beschreibung zur Einführung solcher Probleme benutzt. Hat mir wirklich gut gefallen dieses Beispiel.
Danke für den ausführlichen Kommentar. Die Darstellung der Gedankenreihen, die angestellt werden müssen, um zu neuen Problem und ihren Lösungen zu kommen, das human-suchende Element, die „fragende Haltung“, werden meines Erachtens - mit Blick auf die Einführung von KI-Systemen - die Zukunft der mathematischen Lehre ausmachen. Computer haben keine Probleme, sie „suchen“ nicht. Probleme - verstanden als Hindernisse, die bewältigt werden müssen - drängen sich ihnen gar nicht auf. Die Lehre der Zukunft sollte den Psittazismus (Vorsagerei!) den Maschinen überlassen. Im sturren Regelfolgen sind uns die Maschinen ohnehin weit überlegen. Wir brauchen viel mehr Literatur, die die entdeckende Seite der Mathematik betont. Und in diesem Sinne halte ich die von Ihnen vorgeschlagene Ergänzung der Denkweisen älterer Mathematiker für besonders interessant. Dazu der schon zitierte Felix Klein in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik: "In Zeiten großer gewaltsamer Produktivität tritt es [das Ideal der Strenge] zugunsten des möglichst reichen und raschen Wachstums oft in den Hintergrund, um in einer darauffolgenden kritischen Periode, die die gewonnenen Schätze sichtet, um so mehr wieder betont zu werden. Man denke nur an die Entstehungszeit der Differential- und Integralrechnung im 18. Jahrhundert, in der neben vielem mangelhaft Begründeten auch manches direkt Falsche durch die aufs lebhafteste angeregte Phantasie und Entdeckerlust zutage gefördert wurde, oder an die Erschaffung der Theorie der algebraischen Kurven im 19. Jahrhundert." Und: "Das Geheimnis genialer Produktivität wird es jedoch ewig bleiben, neue Fragestellungen zu finden, neue Theoreme zu ahnen, die wertvolle Resultate und Zusammenhänge erschließen. Ohne die Schaffung neuer Gesichtspunkte, ohne die Aufstellung neuer Ziele, würde die Mathematik in der Strenge ihrer logischen Beweisführung sich bald erschöpfen und zu stagnieren beginnen, indem ihr der Stoff ausgehen möchte." Ich habe schon länger vor, einen Beitrag zu "Geltung und Genese" in der Mathematik zu erstellen, bin aber - wegen der Fülle des Themas - noch nicht dazu gekommen.
Gutes Beispiel. Nur vermute ich ist es schwierig denselben Stil in Vorlesungen durchzusetzen, aufgrund der hohen Stoffdichte. So kommt man um den deduktiven Stil kaum herum. Wobei ich das im Nebenfach Experimentalphysik anders erlebt habe. Ich nehme aber an, dass für die Physik-Vorlesung bewusst Zeit eingeplant wird, um Experimente durchzuführen. In Mathematik bräuchte man vielleicht etwas ähnliches, also einen Spielraum für Gedankenexperimente. Spontan fällt mir so etwas ein wie Matrixmultiplikation oder die Determinante, die oft einfach definiert werden, aber ganz andere Hintergründe haben (bei der Matrixmultiplikation die Koordinantentransformation von linearen Abbildungen, bei der Determinante die Flächenberechnung).
Ich mag zum Beispiel die Skripte von Daniel Grieser zur Analysis. Hier ein Auszug aus seinem Skript zur Definition eines Diffeomorphismus aus der mehrdimensionalen Analysis: "Bemerkung: Warum haben wir in Definition 3.2.1 [C^1 Diffeomorphismus von V nach W] nicht gleich dim V = dim W angenommen, wenn es doch für Diffeomorphismen immer gilt? (In vielen Büchern wird dies getan.) Um zu verdeutlichen, dass wir hier etwas Nichttriviales bewiesen haben. Stellen wir uns folgende Frage: (1) Seien n, m ∈ N und f : Rn → Rm bijektiv. Folgt daraus, dass n = m? Anders herum gefragt (z. B. n = 1, m = 2): Hat die Ebene gleich viele Punkte wie die Gerade? Dies sollte Sie an den Anfang von Analysis I erinnern. Dort zeigten wir, dass N × N abzählbar ist, dass also N und N × N gleich viele Punkte haben. Daher überrascht es nicht, dass die Antwort auf Frage (1) NEIN lautet. Dies beweist man in der Mengenlehre. Fragen wir nun (2) Dieselbe Frage wie (1), mit f stetig. Anders herum gefragt (wieder n = 1, m = 2): Gibt es eine stetige Kurve, die den ganzen R2 ausfüllt? Das ist schwer vorstellbar, es gibt sie aber wirklich (die sogenannten raumfüllenden Kurven, zuerst von Peano entdeckt). Also wieder NEIN. Was muss man denn noch von f verlangen, damit die Antwort Ja lautet? (3) Dieselbe Frage wie (1), mit f und f −1 stetig. Hier ist die Antwort tatsächlich JA, aber das ist recht schwierig zu zeigen (am besten mit algebraischer Topologie). Für n = 1 ist es nicht schwierig, siehe Übung ??. Hieraus folgt natürlich auch Satz 3.2.2(1). Aber wie wir sahen, ist der Beweis unter der stärkeren Voraussetzung der Differenzierbarkeit von f undf −1 sehr einfach." uol.de/daniel-grieser/lehre/skripte-von-d-grieser S.83, Analysis 2
Und nochmal zum Beispiel: Ich dachte es wird auch noch bewiesen, dass die Verkleinerung des Integrationsintervalls die Fläche wirklich verkleinert, falls die Funktion größer gleich 0 ist.
Ad "Stoffmenge": Ja, das stimmt. In Vorlesungen ist dieser Stil schwieriger durchzuhalten; das war nun ein Beispiel, das ich in einem Tutorium behandelt habe und an dem ich ein paar Dinge zeigen konnte, die mir beim Lehren wichtig sind. Andererseits könnte man in Vorlesungen nach der Lehrmethode "Inverted Classroom" vorgehen. Ich finde Vorlesungen deprimierend, in denen quasi das Skript abgelesen wird, ohne große Zusätze anzufügen. Ich denke, es wäre besser, wenn man den deduktiven Stil mit Redundanzfreiheit im Skript belässt, um das zum Heimstudium aufzugeben und - vor allem in den ersten Semestern - eher das mathematische Denken und Beweisen vermittelt. Ich denke aber, dass mit diesen beiden Bedingungen schon viel geholfen wäre: (1) Erkläre - wenn möglich - immer, warum bestimmte Voraussetzungen gefordert werden. (2) Bemerke im Beweisgang, wann diese Voraussetzungen greifen. Ad "Verkleinerung des Integrationsintervalls": Stimmt, das ist ein guter Punkt. Ein Student könnte einwenden: "Wenn das anschaulich genug ist, um nicht bewiesen zu werden, warum dann nicht auch der zur Rede stehende Satz?" Hier stellt sich tatsächlich eine Prioritätsfrage: Ist das eine anschaulicher als das andere? Häufig kriegt man dann ein "Das ist trivial!" als Antwort. Zwei Sachen daran anschließend: (a) Mathematische Beweise sind häufig nicht "formal" in einem logisch strengen Sinne. Es sind häufig halbformale Beweise, garniert mit Wortargumenten, wir formalisieren nicht jeden Beweis, wie es die Hilbert'sche Beweistheorie erfordern würde. Und (b): Wenn jemand davon nicht überzeugt wäre, oder Zweifel hegt, sich nicht wohl mit diesem Schritt fühlt, besteht die Möglichkeit, feiner zu werden. Das Optimum wäre dialogischer Unterricht.
Didaktisch schönes Beispiel. Am spannendsten fand ich allerdings, dass angedeutet wurde, dass die zwei Bedingungen vielleicht doch nicht ausreichen könnten und habe dann sofort überlegt, wieso eigentlich nicht. Dann kam aber nur der Beweis, dass sie hinreichend sind. Allerdings stimmt das nicht ganz, wenn man kleinlich ist: Wenn a=b ist, gilt die Umkehrung nicht. Da kann man ja mal untersuchen lassen, an welcher Stelle diese Voraussetzung eingeht.
Der Mathematiker ist nicht nur am „Dass“ der Wahrheit, sondern vor allem am „Warum“ oder „Wie“ interessiert. Am Ende des Tages sollte man nicht nur einen lückenlosen Beweis sehen - nicht nur sehen, dass er gilt -, sondern vor allem verstehen, warum er er gilt und wie man zu ihm gelangt. Man kommt erst hier wirklich ins Denken: Habe ich etwas übersehen? Woran könnte es scheitern? Um das ewige Fragen zu unterbinden, schafft sich der Mathematiker durch die formale Methode ein Schiedsgericht, vor dem sich der Satz zu verantworten hat. Das kann auch scheitern. Es wäre auch sinnvoll, mal ein Beispiel anzuführen, bei dem es am Ende nicht aufgeht; bei dem der Versuch, einen Satz zu formulieren, scheitert. Die Gedanken und Einsichten, die man dabei erlangt, sind trotzdem wertvoll. Es darf nicht der Eindruck vermittelt werden, als gäbe es kein Trial and Error, sondern nur müstergültige Beweise (aus dem Ärmel geschüttelt). Wenn man den Satz schon auf dem Servierteller präsentiert, verlässt man sich blind auf den bereits in diesen Zeilen investierten Geist. Es ist in etwa so, als würde man den Laien vor eine fertige Maschine stellen und nun von ihm verlangen, er solle beweisen, dass sie unter diesen Umständen funktioniert. Zum Intervall lässt sich sagen, dass [a,a]={a} häufig als "degeneriertes" Intervall bezeichnet wird. Rein auf formaler Ebene ist es aber wohl erlaubt. Es ist also stets a
@@andreasschluter2810 Ich glaube auch nicht, dass der Videoersteller das negativ aufgefasst hat. Ich fand deine Bemerkung mit a=b übrigens sehr scharfsinnig. Das kommt da zum Tragen wo im Beweis davon ausgegangen wird, dass das Teilinterval, welches von delta abhängt, innerhalb von [a,b] liegt. Es kommt halt auch darauf an aus welcher Perspektive man da drauf schaut. Einerseits gehört die Spitzfindigkeit zum guten mathematischen Ton. Das ist so kultiviert dass man nirgendwo Luft dran lassen möchte. Auf der anderen Seite gibt es manchmal so Voraussetzungen wo man sagen möchte "come on" eigentlich ist aus dem Kontext heraus klar was gelten sollte. Aber es schadet auf jeden Fall auch nix da sehr Detailsverliebt zu sein, das schärft die Sinne.
Hallo, ja, darauf wurde bereits hingewiesen. Ich habe dazu geschrieben: "Zum Intervall lässt sich sagen, dass [a,a]={a} häufig als "degeneriertes" Intervall bezeichnet wird. Rein auf formaler Ebene ist es aber wohl erlaubt. Es ist also stets a
Ab 4:39 geht es mit dem Beispiel los.
Vielen Dank für dieses Video!
Was ich auch sehr wichtig finde, ist, auf besonders nützliche Begrifflichkeiten in diesem Zusammenhang zurückzugreifen. Im vorliegenden Beispiel wäre das aus meiner Sicht noch der Begriff der "Umgebung", der von den Formalien abstrahiert.
Auch bei einer naiven Verwendung dieses Begriffs wird dann schnell klar, was der Punkt ist: Die Stetigkeit beschränkt die "Variabilität" der Funkton f "um c herum" (= Umgebung) -- die Funktionswerte um c fallen "nicht schnell genug" ab, als dass ein Integral mit dem Wert 0 herauskommen könnte.
Auch wenn ich nur einen sehr kleinen Variabilitsbereich um den Funktionswert f(c) herum wählen würde, etwa die Umgebung V(f(c)) := [f(c)-epsilon, f(c)+epsilon], würde ich per Definition der Stetigkeit dennoch eine Umgebung U(c):= [c-delta, c+delta] finden können, in der der Funktionswert nicht unter f(c) - epsilon sinken kann. Für epsilon := f(c) / 2 etwa wie in Ihrer Rechnung bleibt die Funktion dann auf U(c) strrikt positiv und liefert auf dieser niechtleeren Menge und nicht-Nullmenge auch ein positives Integral.
Wäre f in c sogar differenzierbar, würde die "Variabilität" von f um den Punkt c herum sogar noch stärker beschränkt. Umgangssprachlich würde man Umgebungen U(c) von c finden können, in denen die Funktionswerte von f nicht nur nicht "beliebig ausreißen können", sondern sich die Funktion f "fast wie eine Gerade verhält" -- mit "leichten" Abweichungen.
Das ist ja das, worauf man letztendlich, gerade in Anwendungen, mit Begriffen wie "Stetigkeit", "Differenzierbarkeit" oder "bandbeschränkt" (im Sinne von Fourier) abzielt: Man will ein wie auch immer "kontrolliertes" Verhalten der Funktion f, das z.B. Vorhersagen erlaubt.
So wünscht sich Mathematik jeder. Die angesprochene Lebendigkeit, konkret, die Voraussetzungen an Fallbeispielen nachvollziehbar zu entwickeln und somit am Ende in den Formularien hinschreiben zu können, wird in der Regel einfach so herunter gespult. Vlt. sollte man schon im Abitur dazu vielmehr machen. Denn man kann ja sehen, dass es durchaus nachvollziehbar dargebracht werden kann. In der Regel wird dies, wie schon von Vorrednern angesprochen, durch die schiere Fülle des Stoffs an der Uni wohl allein schon zunichte gemacht, es so in der Vorlesung zu präsentieren. Aber ich denke auch, dass dies tatsächlich so gewollt ist, also Definitionen oder allgemein "Stoff" abstrakt hinzukritzeln und dann versucht man Ideen zu entwickeln, um es zu beweisen. Aber ich denke, es täte der Vermittlung der Mathematik auch gut und somit der Mathematik allgemein es so zu versuchen, wie hier am Beispiel gemacht. Man muss dann eben abwägen, ob man hier vlt. nicht etwas einschränkt und abwägt, Dinge aufzuspalten im Stoff. Denn was hat man davon, zu sagen, naja es ist halt "alles" im Curriculum drin und somit "juristisch" oder eben der Lehre entsprechend vorhanden, aber es sind halt die Ideen zu kurz gekommen. Dabei sind die Kreativität und somit auch die Ideen in der Mathematik die eigentliche Essenz, natürlich neben der strengen Formalität. Man braucht beides.
Eine schöne Idee wäre noch, gerade weil man hier die weierstraßschen Argumente benutzt, zu zeigen, was im Gegensatz zu der Newtonschen oder Leibnitzschen Herangehensweise am Beispiel der Differenzierung einer Funktion an Sicherheit gewonnen wird, wenn man die Epsilontik benutzt. Denn auch, und das ist das andere Beispiel, wie Mathematik präsentiert wird, wird gerne auch in Büchern eine recht unpräzise Beschreibung zur Einführung solcher Probleme benutzt. Hat mir wirklich gut gefallen dieses Beispiel.
Danke für den ausführlichen Kommentar. Die Darstellung der Gedankenreihen, die angestellt werden müssen, um zu neuen Problem und ihren Lösungen zu kommen, das human-suchende Element, die „fragende Haltung“, werden meines Erachtens - mit Blick auf die Einführung von KI-Systemen - die Zukunft der mathematischen Lehre ausmachen. Computer haben keine Probleme, sie „suchen“ nicht. Probleme - verstanden als Hindernisse, die bewältigt werden müssen - drängen sich ihnen gar nicht auf. Die Lehre der Zukunft sollte den Psittazismus (Vorsagerei!) den Maschinen überlassen. Im sturren Regelfolgen sind uns die Maschinen ohnehin weit überlegen. Wir brauchen viel mehr Literatur, die die entdeckende Seite der Mathematik betont. Und in diesem Sinne halte ich die von Ihnen vorgeschlagene Ergänzung der Denkweisen älterer Mathematiker für besonders interessant.
Dazu der schon zitierte Felix Klein in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik:
"In Zeiten großer gewaltsamer Produktivität tritt es [das Ideal der Strenge] zugunsten des möglichst reichen und raschen Wachstums oft in den Hintergrund, um in einer darauffolgenden kritischen Periode, die die gewonnenen Schätze sichtet, um so mehr wieder betont zu werden. Man denke nur an die Entstehungszeit der Differential- und Integralrechnung im 18. Jahrhundert, in der neben vielem mangelhaft Begründeten auch manches direkt Falsche durch die aufs lebhafteste angeregte Phantasie und Entdeckerlust zutage gefördert wurde, oder an die Erschaffung der Theorie der algebraischen Kurven im 19. Jahrhundert."
Und:
"Das Geheimnis genialer Produktivität wird es jedoch ewig bleiben, neue Fragestellungen zu finden, neue Theoreme zu ahnen, die wertvolle Resultate und Zusammenhänge erschließen. Ohne die Schaffung neuer Gesichtspunkte, ohne die Aufstellung neuer Ziele, würde die Mathematik in der Strenge ihrer logischen Beweisführung sich bald erschöpfen und zu stagnieren beginnen, indem ihr der Stoff ausgehen möchte."
Ich habe schon länger vor, einen Beitrag zu "Geltung und Genese" in der Mathematik zu erstellen, bin aber - wegen der Fülle des Themas - noch nicht dazu gekommen.
Gutes Beispiel. Nur vermute ich ist es schwierig denselben Stil in Vorlesungen durchzusetzen, aufgrund der hohen Stoffdichte. So kommt man um den deduktiven Stil kaum herum. Wobei ich das im Nebenfach Experimentalphysik anders erlebt habe. Ich nehme aber an, dass für die Physik-Vorlesung bewusst Zeit eingeplant wird, um Experimente durchzuführen. In Mathematik bräuchte man vielleicht etwas ähnliches, also einen Spielraum für Gedankenexperimente.
Spontan fällt mir so etwas ein wie Matrixmultiplikation oder die Determinante, die oft einfach definiert werden, aber ganz andere Hintergründe haben (bei der Matrixmultiplikation die Koordinantentransformation von linearen Abbildungen, bei der Determinante die Flächenberechnung).
Ich mag zum Beispiel die Skripte von Daniel Grieser zur Analysis. Hier ein Auszug aus seinem Skript zur Definition eines Diffeomorphismus aus der mehrdimensionalen Analysis:
"Bemerkung: Warum haben wir in Definition 3.2.1 [C^1 Diffeomorphismus von V nach W] nicht gleich dim V = dim W angenommen, wenn es doch für Diffeomorphismen immer gilt? (In vielen Büchern wird dies getan.) Um zu verdeutlichen, dass wir hier etwas Nichttriviales bewiesen haben. Stellen wir uns folgende Frage:
(1) Seien n, m ∈ N und f : Rn → Rm bijektiv. Folgt daraus, dass n = m? Anders herum gefragt (z. B. n = 1, m = 2): Hat die Ebene gleich viele Punkte wie die Gerade? Dies sollte
Sie an den Anfang von Analysis I erinnern. Dort zeigten wir, dass N × N abzählbar ist, dass also N und N × N gleich viele Punkte haben. Daher überrascht es nicht, dass die Antwort auf Frage (1) NEIN lautet. Dies beweist man in der Mengenlehre. Fragen wir nun
(2) Dieselbe Frage wie (1), mit f stetig. Anders herum gefragt (wieder n = 1, m = 2): Gibt es eine stetige Kurve, die den ganzen R2 ausfüllt? Das ist schwer vorstellbar, es gibt sie aber wirklich (die sogenannten raumfüllenden Kurven, zuerst von Peano entdeckt). Also wieder NEIN. Was muss man denn noch von f verlangen, damit die Antwort Ja lautet? (3) Dieselbe Frage wie (1), mit f und f −1 stetig. Hier ist die Antwort tatsächlich JA, aber das ist recht schwierig zu zeigen (am besten mit algebraischer Topologie). Für n = 1 ist es nicht schwierig, siehe Übung ??. Hieraus folgt natürlich auch Satz 3.2.2(1). Aber wie wir sahen, ist der Beweis unter der stärkeren Voraussetzung der Differenzierbarkeit von f undf −1 sehr einfach."
uol.de/daniel-grieser/lehre/skripte-von-d-grieser S.83, Analysis 2
Und nochmal zum Beispiel: Ich dachte es wird auch noch bewiesen, dass die Verkleinerung des Integrationsintervalls die Fläche wirklich verkleinert, falls die Funktion größer gleich 0 ist.
Ad "Stoffmenge": Ja, das stimmt. In Vorlesungen ist dieser Stil schwieriger durchzuhalten; das war nun ein Beispiel, das ich in einem Tutorium behandelt habe und an dem ich ein paar Dinge zeigen konnte, die mir beim Lehren wichtig sind. Andererseits könnte man in Vorlesungen nach der Lehrmethode "Inverted Classroom" vorgehen. Ich finde Vorlesungen deprimierend, in denen quasi das Skript abgelesen wird, ohne große Zusätze anzufügen. Ich denke, es wäre besser, wenn man den deduktiven Stil mit Redundanzfreiheit im Skript belässt, um das zum Heimstudium aufzugeben und - vor allem in den ersten Semestern - eher das mathematische Denken und Beweisen vermittelt.
Ich denke aber, dass mit diesen beiden Bedingungen schon viel geholfen wäre:
(1) Erkläre - wenn möglich - immer, warum bestimmte Voraussetzungen gefordert werden.
(2) Bemerke im Beweisgang, wann diese Voraussetzungen greifen.
Ad "Verkleinerung des Integrationsintervalls": Stimmt, das ist ein guter Punkt. Ein Student könnte einwenden: "Wenn das anschaulich genug ist, um nicht bewiesen zu werden, warum dann nicht auch der zur Rede stehende Satz?" Hier stellt sich tatsächlich eine Prioritätsfrage: Ist das eine anschaulicher als das andere? Häufig kriegt man dann ein "Das ist trivial!" als Antwort. Zwei Sachen daran anschließend: (a) Mathematische Beweise sind häufig nicht "formal" in einem logisch strengen Sinne. Es sind häufig halbformale Beweise, garniert mit Wortargumenten, wir formalisieren nicht jeden Beweis, wie es die Hilbert'sche Beweistheorie erfordern würde. Und (b): Wenn jemand davon nicht überzeugt wäre, oder Zweifel hegt, sich nicht wohl mit diesem Schritt fühlt, besteht die Möglichkeit, feiner zu werden. Das Optimum wäre dialogischer Unterricht.
excellent opening piano 👌
Hat mir sehr gut gefallen
⭐⭐⭐⭐⭐
Gefällt mir. Am Ende könnte man noch erwähnen, dass man die Aussage noch etwas erweitern kann: Mit f(x)
@@ws1808 Danke. Ja, das stimmt. Die erste Forderung soll ja das Problem der vorzeichenbehafteten Fläche lösen. Das geht auch mit f(x)
Schön, dass Sie erst mit der eigentlichen Beweisidee anfangen, bevor sie den Beweis herunterspulen. Das geht in der Uni meist verloren.
Didaktisch schönes Beispiel. Am spannendsten fand ich allerdings, dass angedeutet wurde, dass die zwei Bedingungen vielleicht doch nicht ausreichen könnten und habe dann sofort überlegt, wieso eigentlich nicht. Dann kam aber nur der Beweis, dass sie hinreichend sind. Allerdings stimmt das nicht ganz, wenn man kleinlich ist: Wenn a=b ist, gilt die Umkehrung nicht. Da kann man ja mal untersuchen lassen, an welcher Stelle diese Voraussetzung eingeht.
Der Mathematiker ist nicht nur am „Dass“ der Wahrheit, sondern vor allem am „Warum“ oder „Wie“ interessiert. Am Ende des Tages sollte man nicht nur einen lückenlosen Beweis sehen - nicht nur sehen, dass er gilt -, sondern vor allem verstehen, warum er er gilt und wie man zu ihm gelangt. Man kommt erst hier wirklich ins Denken: Habe ich etwas übersehen? Woran könnte es scheitern? Um das ewige Fragen zu unterbinden, schafft sich der Mathematiker durch die formale Methode ein Schiedsgericht, vor dem sich der Satz zu verantworten hat. Das kann auch scheitern. Es wäre auch sinnvoll, mal ein Beispiel anzuführen, bei dem es am Ende nicht aufgeht; bei dem der Versuch, einen Satz zu formulieren, scheitert. Die Gedanken und Einsichten, die man dabei erlangt, sind trotzdem wertvoll. Es darf nicht der Eindruck vermittelt werden, als gäbe es kein Trial and Error, sondern nur müstergültige Beweise (aus dem Ärmel geschüttelt). Wenn man den Satz schon auf dem Servierteller präsentiert, verlässt man sich blind auf den bereits in diesen Zeilen investierten Geist. Es ist in etwa so, als würde man den Laien vor eine fertige Maschine stellen und nun von ihm verlangen, er solle beweisen, dass sie unter diesen Umständen funktioniert.
Zum Intervall lässt sich sagen, dass [a,a]={a} häufig als "degeneriertes" Intervall bezeichnet wird. Rein auf formaler Ebene ist es aber wohl erlaubt. Es ist also stets a
@@anthroporraistes_ War mehr ein Spaß, sollte nichts gegen das gelungene Video sagen…
@@andreasschluter2810 Ich glaube auch nicht, dass der Videoersteller das negativ aufgefasst hat.
Ich fand deine Bemerkung mit a=b übrigens sehr scharfsinnig. Das kommt da zum Tragen wo im Beweis davon ausgegangen wird, dass das Teilinterval, welches von delta abhängt, innerhalb von [a,b] liegt.
Es kommt halt auch darauf an aus welcher Perspektive man da drauf schaut. Einerseits gehört die Spitzfindigkeit zum guten mathematischen Ton. Das ist so kultiviert dass man nirgendwo Luft dran lassen möchte. Auf der anderen Seite gibt es manchmal so Voraussetzungen wo man sagen möchte "come on" eigentlich ist aus dem Kontext heraus klar was gelten sollte.
Aber es schadet auf jeden Fall auch nix da sehr Detailsverliebt zu sein, das schärft die Sinne.
Nietzsche als Intro-Musik zu einem Mathevideo? Ich war nicht auf eine Crossover-Episode vorbereitet.
Gut erkannt! Es handelt sich um Nietzsches Heldenklage.
Kleiner Tipp: Der Herr wird "Lakatosch" ausgesprochen.
@@petermischler7324 Danke, werde ich mir merken. Ergibt Sinn, dass man es so ausspricht - als ungarischer Name.
Was ist mit a=b?
Dann wird doch das Integral auch null, obwohl f ungleich 0 ist, oder?
Hallo, ja, darauf wurde bereits hingewiesen. Ich habe dazu geschrieben: "Zum Intervall lässt sich sagen, dass [a,a]={a} häufig als "degeneriertes" Intervall bezeichnet wird. Rein auf formaler Ebene ist es aber wohl erlaubt. Es ist also stets a