Kurt Tucholsky „Die brennende Lampe“ (1931)

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  • Опубліковано 12 вер 2024
  • Rezitation: Bernhard Scheller
    von der CD „Kurt Tucholsky - Gedichte und Texte “
    erschienen im Hörmedia Verlag
    ISBN 978-3-938891-24-6
    zum 70. Jahrestag des Endes des 2. Weltkrieges am 08. Mai 2015
    Text:
    Wenn ein jüngerer Mann, etwa von dreiundzwanzig Jahren, an einer verlassenen Straßenecke am Boden liegt, stöhnend, weil er mit einem tödlichen Gas ringt, das eine Fliegerbombe in der Stadt verbreitet hat, er keucht, die Augen sind aus ihren Höhlen getreten, im Munde verspürt er einen widerwärtigen Geschmack, und in seinen Lungen sticht es, es ist, wie wenn er unter Wasser atmen sollte -: dann wird dieser junge Mensch mit einem verzweifelten Blick an den Häusern hinauf, zum Himmel empor, fragen:
    »Warum -?«
    Weil, junger Mann, zum Beispiel in einem Buchladen einmal eine sanfte grüne Lampe gebrannt hat. Sie bestrahlte, junger Mann, lauter Kriegsbücher, die man dort ausgestellt hatte; sie waren vom ersten Gehilfen fein um die sanft brennende Lampe herumdrapiert worden, und die Buchhandlung hatte für dieses ebenso geschmackvolle wie patriotische Schaufenster den ersten Preis bekommen.
    Weil, junger Mann, deine Eltern und deine Großeltern auch nicht den leisesten Versuch gemacht haben, aus diesem Kriegsdreck und aus dem Nationalwahn herauszukommen. Sie hatten sich damit begnügt - bitte, stirb noch nicht, ich möchte dir das noch schnell erklären, zu helfen ist dir ohnehin nicht mehr - sie hatten sich damit begnügt, bestenfalls einen allgemeinen, gemäßigten Protest gegen den Krieg loszulassen; niemals aber gegen den, den ihr sogenanntes Vaterland geführt hat, grade führt, führen wird. Man hatte sie auf der Schule und in der Kirche, und, was noch wichtiger war, in den Kinos, auf den Universitäten und durch die Presse national vergiftet, so vergiftet, wie du heute liegst: hoffnungslos. Sie sahen nichts mehr. Sie glaubten ehrlich an diese stumpfsinnige Religion der Vaterländer, und sie wußten entweder gar nicht, wie ihr eignes Land aufrüstete: geheim oder offen, je nach den Umständen; oder aber sie wußten es, und dann fanden sies sehr schön. Sehr schön fanden sie das. Deswegen liegst du, junger Mann.
    Was röchelst du da -? »Mutter?« - Ah, nicht doch. Deine Mutter war erst Weib und dann Mutter, und weil sie Weib war, liebte sie den Krieger und den Staatsmörder und die Fahnen und die Musik und den schlanken, ranken Leutnant. Schrei nicht so laut; das war so. Und weil sie ihn liebte, haßte sie alle die, die ihr die Freude an ihrer Lust verderben wollten. Und weil sie das liebte, und weil es keinen öffentlichen Erfolg ohne Frauen gibt, so beeilten sich die liberalen Zeitungsleute, die viel zu feige waren, auch nur ihren Portier zu ohrfeigen, so beeilten sie sich, sage ich dir, den Krieg zu lobpreisen, halb zu verteidigen und jenen den Mund und die Druckerschwärze zu verbieten, die den Krieg ein entehrendes Gemetzel nennen wollten; und weil deine Mutter den Krieg liebte, von dem sie nur die Fahnen kannte, so fand sich eine ganze Industrie, ihr gefällig zu sein, und viele Buchmacher waren auch dabei. Nein, nicht die von der Rennbahn; die von der Literatur. Und Verleger verlegten das. Und Buchhändler verkauften das.
    Und einer hatte eben diese sanft brennende Lampe aufgebaut, sein Schaufenster war so hübsch dekoriert; da standen die Bücher, die das Lob des Tötens verkündeten, die Hymne des Mordes, die Psalmen der Gasgranaten. Deshalb, junger Mann.
    Eh du die letzte Zuckung tust, junger Mann: Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen. Man hat ja noch niemals alle Schulen und alle Kirchen, alle Kinos und alle Zeitungen für die Propaganda des Krieges gesperrt. Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber kriegablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist. Das weiß man nicht. Man kennt nur staatlich verhetzte Jugend. Du bist ihre Frucht; du bist einer von ihnen - so, wie dein fliegender Mörder einer von ihnen gewesen ist.
    Darf ich deinen Kopf weicher betten? Oh, du bist schon tot. Ruhe in Frieden. Es ist der einzige, den sie dir gelassen haben.
    Geschrieben als Kaspar Hauser - Die Weltbühne vom 02.06.1931
    Bilder: A. Paul Weber - *1893 - †1980 -

КОМЕНТАРІ • 10

  • @ralfbeckmann597
    @ralfbeckmann597 3 роки тому +7

    Wir brauchen Kurt Tucholsky heute mehr als je zuvor

  • @ralfbeckmann597
    @ralfbeckmann597 3 роки тому +3

    DANKE für Lyrik für Puristen

  • @Clocktacular
    @Clocktacular 9 років тому +7

    Ich kannte den Text noch nicht und ich fühle mich dabei zum selben Teil als Sterbender wie Erzähler. Vielen Dank fürs teilen!

  • @mmbmbmbmb
    @mmbmbmbmb 9 років тому +7

    Ein grossartiger Text von einem grossartigen Schriftsteller.
    Und sicherlich aufruettelnd und anregend um zu sagen ... "NIE wieder Krieg!"
    Dennoch ~ selbst wenn in manchen Breiten dieser Welt Menschen allmaehlich doch im Stande waeren friedlich miteinander zu leben ... es gibt leider viel zu viel Aggression, die das niemals moeglich machen wird. Sosehr ich es mir wuensche, sosehr ich selbst dran glauben moechte ... aber ich denke, der Grossteil der Menschheit ist ganz einfach zu BLOED, zu GIERIG ... und vor allem zu LIEBLOS fuer den FRIEDEN, den wir uns sosehr wuenschen.
    Trozdem ... bitte ... nie aufhoeren aufzuruetteln!
    JA ~ Lasst uns reden, miteinander streiten, und lasst unsere Faeusste in den Taschen geballt bleiben ... ✌
    Gratulation zum 1.100-sten ... mit DANK!

    • @utebinder8348
      @utebinder8348 11 місяців тому

      Gerade regte ich mit einer Freundin gemeinsam, über diese allgemeine "Bräsigkeit" in unserer Umgebung auf.
      NUR ein Dampfablassen, gewiß, doch es hat uns geholfen wach zu bleiben, Wenigstens dies,
      sich nicht gewöhnen !

  • @tortuga9093
    @tortuga9093 Рік тому +2

    90 Jahre und NICHTS hat sich geändert

  • @petraklein8170
    @petraklein8170 4 роки тому +3

    🙏🙏🙏😢😢😢👁

  • @C-Rebell-um
    @C-Rebell-um Рік тому +1

    Wo sind derartige Denker & Dichter heutzutage in Deutschland anzufinden?

    • @utebinder8348
      @utebinder8348 11 місяців тому

      Vieleicht ? Vielleicht, ab und zu,? Vielleicht auch immer õfter ? Hier ?